Samstag, 4. April 2015

Jugendzentrum vs. Disco (Gastbeitrag von Stefan)

Stefans Erinnerungsflash hält an und bringt ein ganz heißes Thema hervor ;-) Besten Dank, Stefan!

Ah, ah, ah, ah, stayin' alive, stayin' alive!

Ende 1977 sorgte dieses trotzige, von stampfenden Beats unterlegte, in hohem Falsett gesungene
Statement, sich nicht unterkriegen zu lassen  - nicht vom Moloch New York, nicht vom tristen Brooklyner Arbeiterklassedasein -  , sondern besser der prallen Hier-und-jetzt-Lebenslust, genauer: dem Hedonismus im tanzenden Licht der sich allsamstagnächtlich drehenden Glitzerkugel zu frönen, zu einem Comeback der musikalischen Brüder BeeGees, die Jahre zuvor mit eher sanft-opulenten Balladen („Massachusetts“) weltweite Charts-Erfolge einheimsten, danach aber einige Zeit kommerzielle Pause hatten.

Die Single-Auskoppelung „Stayin` Alive (Veröffentlichung: 13. Dezember 1977) aus dem Soundtrack des Kinofilms „Saturday Night Fever“ (mit John Travolta in der Hauptrolle, >>> Trailer) schoß in den weltweiten Musikverkaufscharts durch die Decke und sorgte gemeinsam mit dem (Kinokassen zur Geldmaschine machenden) Film für eine globale Discowelle, die vor Deutschland nicht halt machte, auch wenn sie hier etwas verzögert ankam: Der Filmstart in „diesem unserem Lande“ (so, in anderem Zusammenhang, der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl) war erst am 13. April 1978.

Somit verließ die Disco-Bewegung ihr subkulturelles Biotop, nämlich die New Yorker Schwulen- und Lesbenszene, und wurde zum Pop-Mainstream, was zur Folge hatte, dass sich auch so mancher bundesrepublikanische Jüngling die akkurat geschnittenen Haare mit Gel frisierte, sich in einen weißen Anzug warf und (wie John Travolta als Tony Manero im Film) die Tanzflächen der Diskotheken untertan machte.

In der Bayreuther Tanzschule Strömsdörfer („Strömi“) wurde Disco-Fox gelehrt. Im Offenen Jugendzentrum wurde Disco gehasst.

Als damals ein Freund von mir in provokativer Absicht grinsend die oben erwähnte Schallplatte mit den (übrigens nur halb ironischen) Worten, dies sei echt gute Musik, auflegte, brach bei den Anwesenden ein Sturm der Entrüstung los und die Platte auseinander (letzteres kann ich nicht verbürgen, aber dieser Satz klingt einfach zu gut).

www.imdb.com/...
Das John-Travolta-Lookalike-Volk und die zugehörige Musik galten bei uns Jugendzentrikern als wahlweise dumm, bescheuert oder einfach nur blöd. Einige vermuteten auch den bösen (US-) Kapitalismus dahinter, der die Jugend mit oberflächlichem Discovergnügen vom Reflektieren über die wahren eigenen Bedürfnisse abhielt und somit revolutionären Geist im Keim erstickte.

Dass sich auch Frank Zappa in seiner Musik über Disco lustig machte („Dancin` Fool) war nur eine von vielen Bestätigungen unserer Haltung, und dass man, wenn man ab und an eine Stippvisite in der Höhle des Löwen, nämlich in der Diskothek „Max 30“ machte, von Disco-Typen wegen der langen Haare aggressiv angemacht wurde, eine weitere.

Im Gegenzug wurde einem Jugendlichen aus der Disco-Szene, der sich ins Offene Jugendzentrum verirrt hatte, durch eisige Ablehnung schon mal klar gemacht, dass die Definition von „offen“ im Jugendzentrum eine ganz spezielle war. Die Discokultur wurde von uns einfach nicht als solche anerkannt. Wenn auch niemand so weit ging wie die selbsternannten Retter der Rockmusik, die (aufgehetzt von Rock-Radio-DJs) 1979 unter dem Motto „Disco sucks!“ in Chicago öffentlich Disco-Schallplatten verbrannten. Das Verbrennen von Kulturgut hat sich in Deutschland seit 1933 zum Glück bislang nicht wiederholt.

Aus heutiger Rückschau war das Verteufeln der Disco-Bewegung falsch und ignorant. Letzteres nicht nur angesichts des subkulturellen, Anti-(!)-Establishment-Hintergrunds von Disco, sondern auch bezüglich der musikalischen Vielfalt dieser Variante der Pop-Kultur und deren Einfluß auf andere Stilrichtungen.

Gegenwärtig wird ja dem Lebenswerk des mittlerweile 75-jährigen Giorgio Moroder gehuldigt, dem einstigen „Munic-Disco-Produzenten, unter anderem auf dem letztjährigen, preisgekrönten Album des Pop-Duos Daft Punk. Ganz zu Recht, finde ich.

Das Anti-Disco-Spielchen hat sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre im Prinzip wiederholt, als die Verfechter „echter“ Rockmusik die entstehende Techno-Bewegung beschimpften: „Primitives Gestampfe!“ „Das soll Musik sein?“ Soll es nicht nur, ist es auch. Und zwar gute. Auf meinem iPod jedenfalls existieren unter anderem Techno/House/Electronic, Sex Pistols, Talking Heads, Neil Young, Frank Zappa, Ludwig van Beethoven u.v.m. einträchtig nebeneinander.

>>> Bee Gees Stayin` Alive
>>> Saturday Night Fever Trailer
>>> Tanzschule Strömsdörfer
>>> Frank Zappa Dancin` Fool
>>> Munic-Disco Giorgio Moroder Medley
>>> Daft Punk | Random Access Memories | The Collaborators: Giorgio Moroder
>>> Post 70er: Daft Punk Top Tracks




Stefan: 
Apropos Ludwig Van Beethoven (im letzten Satz des Textes erwähnt): Den gab es damals auch in der Disco-Version: Walter Murphy - A Fifth Of Beethoven.

Birgit:
Lieber Stefan! Ich hätte gerne eine tägliche Kolumne von dir - du schreibst so gut über unsere Vergangenheit, da wird man richtig süchtig!

Hermien:
Franz hat recht, Stefan! Schreib bitte weiter

Birgit:
Das liest sich wie Thomas Brussig für Westdeutsche... :0)

Stefan:
Vielen Dank! ;-)

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