Freitag, 10. April 2015

Die Teestube - Rituale & Varietäten (Gastbeitrag von Stefan)

It`s tea time:


Neulich war ich in Nürnberg. Nicht  - wie einstmals in Jugendzentrumszeiten -  aus Gründen des Schallplattenkaufs (siehe: „Das Jugendzentrum und die Magie der Schallplatte“) und auch nicht, um dem KOMM einen Besuch abzustatten. Wie das Offene Jugendzentrum Bayreuth ist auch das KOMM längst Geschichte (hat aber immerhin bis weit in die 1990er Jahre durchgehalten). Nein, es waren zwei andere Gründe:
Erstens bin ich immer wieder gerne in Nürnberg (alte Verbundenheit, habe 1995 bis 2008 dort gewohnt) und zweitens gibt es in der Frankenmetropole den einzigen Nespresso-Shop weit und breit.

Welche „Varietäten“ (Nespresso-Newspeak für Kaffeesorten und- mischungen) soll ich mir diesmal „holen“ (wie man heutzutage das Einkaufen nennt)? Dulsao do Brasil oder Rosabaya de Colombia? Kazaar, Ristretto oder Dharkan? Ich nehme schließlich Fortissio Lungo und lasse mich überreden, noch ein paar Kapseln Monsoon Malabar Limited Edition dazuzukaufen, auf dass daheim im Küchenregal die ohnehin schon wahnsinnige Varietätenvielfalt in eine neue Dimension des Auswahl-Overkills vorstoße.

Ich unterdrücke das bei Nespresso-Usern übliche schlechte Gewissen ökologischer (Wegwerfkaffeekapseln aus wertvollem Aluminium) und ökonomischer Art (Kaffee so teuer wie Tintenstrahldruckerpatronen) mit der üblichen Man-gönnt-sich-ja-sonst-nichts-Autosuggestion und habe ein Déjà Vu:
Irgendwie kommt mir das ganze Varietäten-Gedöns bekannt vor, dazu die permanente Fragentiefschürferei, ob man nun weißen, braunen oder gar keinen Zucker dazutun soll. Oder Kandis? Hohe Tassen oder eher flache? Dicke oder dünnwandige?

Richtig erraten: Ich spreche von der Teezeit.

Womit ich nicht das tägliche Five-o`-Clock-Tea-Ritual der Briten meine, sondern die Zeit in den 1970ern, als es im Offenen Jugendzentrum Bayreuth die Teestube gab und als auch so manches Jugendzimmer (meines zum Beispiel) eine Art Teestube war, ausgestattet mit mehrteiligem Teeservice (Standardausführung: dünne, weiße Tassen mit bläulichem Muster), welches im Obstkistenregal (oder auf einer umgedrehten, also zum Tischchen mutierten Obstkiste) stets bereitstand, dazu die passende Kanne auf Stövchen nebst Kerze zum Warmhalten (daneben griffbereit: Räucherstäbchen. Es war schon wichtig, stets sandlewood-umwölkt zu sein).
Dazu die nie befriedigend zu Ende diskutierte Grundsatzfrage: Wie gieße ich den Tee auf? Im Teenetz, im Porzellan-Einsatz oder im Tee-Ei?



Eines war klar: Fertiger Beuteltee aus dem Supermarktregal war ein Sakrileg, das Übel schlechthin, fast so schlimm wie Disco-Musik (siehe: „Jugendzentrum vs. Disco“). Tee wurde im spezialisierten Einzelhandel offen gekauft, und die Auswahl war riesig: Es gab aromatisierte Tees, sortenreine Tees, Teemischungen mit interessanten Namen („Blaue Stunde“ etwa). Es gab Darjeeling First Flush und Darjeeling Second Flush. Grüne Tees, schwarze Tees. Manche Tees rochen fruchtig, manche süßlich, manche scheußlich. Einige schmeckten bitter wegen Falschbehandlung (zu lange ziehen lassen), andere sollten so schmecken

All diese Varietäten (offen, kapsellos, aluminiumfrei, deutlich billiger als die noch nicht erfundenen Tintenstrahldruckerpatronen) bot die Teestube im Obergeschoß des Jugendzentrums  -  und noch viel mehr: Musikhören, diskutieren, schweigen, tagträumen, Schach oder Reversi spielen, auf bequemen Polstern herumfläzen (hey, davon haben die Amis ihr Starbucks-Inneneinrichtungskonzept geklaut!), nicht (!) rauchen.

Ja, genau: In der Teestube wurde nicht geraucht, erstaunlich in jenen verqualmten Zeiten (siehe: „Der blaue Dunst und die Selbstgedrehte“), und alle hielten sich dran. Denn im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht über die Langhaarigen im Jugendzentrum war deren Selbstorganisationsfähigkeit und -disziplin ziemlich hoch.

Die Teestube bot  - einfach so, quasi aus dem Ärmel -  etwas, das heutzutage zwar in aller Munde,
aber selten machbar ist: Entschleunigung. Und das, obwohl es diesen Begriff damals noch gar nicht gab.

So, jetzt erst mal einen Teebeutel ins Wasser hängen. Wenn nur dieser verdammte Schnellkocher nicht so lange brauchen würde!




Aus dem Archiv:

WIR 01/1977 S.23
Flyer Offenes Juzet, 1979

>>> Die Teestube in der "virtuellen Realität", Kamerafahrt

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