Dienstag, 31. März 2015

Zeit im Bild
Eine Foto-Interpretation in 12 Schritten
(Gastbeitrag Stefan)

Noch ein schöner Gastbeitrag von Stefan - da hat die geplante Juzet-Party wohl eine Zeitreise ausgelöst :-)

Fotografie ist das Einfrieren von Zeit.

Wenn man den vorliegenden Schnappschuss eingehend betrachtet, zeigt er mehr als nur einen zigaretterauchenden (*), fröhlich-aufmüpfig wirkenden Junghippie.
Es ist vielmehr eine, wenn nicht komplette, so doch umfangreiche Ablichtung von 1970er-Jahre-Jugendzentrums-Lifestyle (wenn auch nicht im Jugendzentrum selbst aufgenommen, sondern zuhause in meiner eigenen Teenage-Bude im elterlichen Haus).



(Die folgende Aufzählung bezieht sich auf die grünen Zahlenmarkierungen im Foto.)

  1. Die Orangenkiste, auch allgemein Obstkiste genannt: Damals bekamen Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte ihr Obst in Sperrholzkisten geliefert, die sich dann leer, ungenutzt, wegwerfbereit vor den Hintereingängen und Anlieferzonen der Läden stapelten. Diese Kisten, die eine genormte Einheitsgröße und  -form hatten, durfte man sich mitnehmen (ganz legal, wenn man vorher brav gefragt hat)  -  und das taten wir damals auch. Auf meinem Foto unten links bildet so eine Obstkiste die Abstellmöglichkeit für den Schallplattenspieler, man konnte auch Regale damit bauen, die Kisten anmalen, roh lassen, oder mit samtenen Decken dekorieren, etwa um darauf das Teeservice abzustellen. In so eine Obstkiste passten auch perfekt Langspielplatten, durch die man dann bequem blättern konnte.
  2. Der Schallplattenspieler (bzw. die Stereoanlage mit Schallplattenspieler) war das wichtigste Stück Technik in unserer an sich eher technikkritischen Jugend. Möglichst teuer und gut, am besten aus japanischer Produktion (die 1970er Jahre waren die Zeit des Aufstiegs von Sony & Co. und des Niedergangs von Grundig & Co.). Mein Plattenspieler war allerdings von Elac, kein übles Gerät, angeschlossen an eine Stereo-Anlage der Quelle-Hausmarke Universum, die war allerdings ein ziemlich übles Gerät.
  3. Schallplatten im Regal: Ich erkenne auf dem Foto den Rücken der Platte „Déjà Vu“ von Crosby, Stills, Nash & Young.
  4. Musikkassetten: Überspielte Musik von geliehenen Platten und aus dem Radio („Club 16“, Soundfile von 1976, hier ).
  5. Poster an der Wand: In diesem Fall eine künstlerisch schräg aufgehängte Fotografie des „United Jazz- & Rock-Ensembles“, dessen Platten (so weit ich mich entsinne) exklusiv bei Zweitausendeins vertrieben wurden. Zweitausendeins war wichtig und angesagt. So eine Art (analoges) Amazon in der politisch korrekten Version.
  6. Zeugs an der Wand: In diesem Fall Rummelplatzpfauenfedern. Egal, Hauptsache Zeugs.
  7. Karl-May-Bände, die ich erst wenige Jahre vor Entstehen des Fotos verschlungen habe. Zum Zeitpunkt der Aufnahme stand ich eher auf Karl Marx.
  8. Grauenvolle 1970er-Jahre-Tapeten-Muster, typisch für Jugendzimmer in dieser Zeit. Im Offenen Jugendzentrum und in WGs wurden Wände eigenhändig bemalt.
  9. Snoopy-Poster: Snoopy und die anderen Personen aus dem Charlie-Brown-Cartoon-Universum des US-Zeichners Charles M. Schulz überdauerten die Kindheit und waren auch bei älteren Teenager noch sehr beliebt.
  10. Flicken auf den Jeans, möglichst viele, im meinem Fall ein herzförmiger Aufbügelflicken. Der Albtraum der Elterngeneration („So läufst Du mir nicht herum!“ Doch, tat ich.)
  11. Zigarettenrauchen, möglichst selbstgedrehte Glimmstengel. Falls ausnahmsweise doch fertige Zigaretten, dann am besten französische Gauloises oder andere nichtamerikanische Kippen.
  12. Haare, Haare, Haare. Möglichst viel davon und lang („wuschelig“ war auch kein Nachteil). Neben Flickenjeans der zweite Albtraum der Eltern („So läufst Du mir nicht herum!“  Doch, tat ich.)

>>> Blogartikel: Unverzichtbarer Lebensgefährte: der Plattenspieler
>>> Blogartikel: Kassettenrekorder töten Musik - Home Taping Is Killing Music
>>> Blogartikel: Der blaue Dunst & die Selbstgedrehte 

(*) Nachtrag:
Ein promovierter Germanist im JuZet-Blog-Mail-Verteiler hat darauf aufmerksam gemacht, dass es "einen zigaretterauchenden ... Junghippie" heißen muss und nicht "einen Zigarette rauchenden ... Junghippie". Auch die von ihm zu Rate gezogenen Kollegen an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und die Duden-Sprachberatung haben das bestätigt! Danke und Wow! Der Fehler wurde natürlich korrigiert.

Sprache und Grammatik sind unglaublich faszinierende kulturelle Leistungen. Und es sind gerade diese scheinbar haarspalterischen Grammatikfehler, die, wenn man sich etwas intensiver mit ihnen auseinandersetzt, einem die großartige Komplexität von Sprache verdeutlichen können:

vgl. Duden Regel 47: Verben können mit [verblassten] Substantiven sogenannte trennbare oder unfeste Zusammensetzungen bilden, die nur im Infinitiv, in den beiden Partizipien sowie bei Endstellung im Nebensatz zusammengeschrieben werden <§ 34 (1‒3) und E3 (1)>


In unserem Fall ist "Zigarette" ein verblassendes Substantiv, weil es im Zusammenhang mit "rauchen" verblasst und seine Eigenständigkeit verliert. Was soll man auch anderes rauchen als eine "Zigarette" (Ein Schelm, der Böses dabei denkt..., aber das ist ein anderes Thema). In dem betreffenden Satz hätte also auch "rauchender Junghippie" allein genügt. Die "Zigarette" ist hier nur eine nicht notwendige verbale Ausschmückung, als Substantiv verblasst sie.

Anders ist das z.B. beim "Schlittschuh laufen", hier verblasst das Substantiv "Schlittschuh" nicht, da er das sehr allgemeine Verb "laufen" sehr deutlich präzisiert und es damit seine wichtige Eigenständigkeit behält. Denn ohne den "Schlittschuh" könnte ein Satz mit "Schlittschuh laufen" seinen Sinn und seine Eindeutigkeit verlieren.

Zu klären wäre jetzt nur noch, ob es diese Regel schon in den 70er Jahren gab, oder ob diese erst im Rahmen einer späteren Rechtschreibreform eingeführt wurde. Es bleibt also immer noch denkbar, dass der "zigaretterauchende Junghippie" damals tatsächlich ein "Zigarette rauchender Junghippie" war. 

Ich hoffe sehr, dass diese nun tatsächlich interessante Frage noch geklärt werden kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.