Montag, 30. März 2015

Blick von heute, zurück nach vorne
(Gastbeitrag von Martin)

(Gestern Abend kam dieser Gastbeitrag von Martin. Ein Text, der nachdenklich macht, der Reflektionen auslöst. Lesenswert! Danke, Martin.)

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...damals um 1980


Neudorf, 29. März 2015. Natürlich waren wir toll. Wir waren jung und waren voll der Überzeugung, alles Gesehene und Erlebte entdecken wir augenblicklich jetzt das erste Mal. Die Alten waren eigentlich schon immer alt und hatten die Welt bisher sowieso nicht entdecken können, weil eben schon immer alt. Dabei hätten wir das auch alles besser wissen können, denn die meisten von uns kamen ja doch von einigermaßen behüteten Elternhäusern, in denen Bildung einen durchaus hohen Stellenwert hatte. Zudem war mein Elternhaus politisch gesehen - wie man früher sagte - progressiv und systemkritisch. Aber wie jede Generation muss man sich davon ja erst einmal emanzipieren. 

Das Offene Jugendzentrum mit seiner besonderen Mischung aus ganz verschiedenen Persönlichkeiten und Charakteren war für mich ein Mosaikstein, das mir neue Türen öffnete und Kompetenzen erwerben ließ, von denen ich auch heute noch profitiere.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das erste Mal ins Offene Jugendzentrum gekommen bin. (Gleichwohl weiß ich noch, was ich für ein Hemd damals anhatte. Rosa war es und damals ging das gar nicht.) Es war wohl 1977 oder 1978 kurz nach meiner Konfirmation zumindest. Das weiß ich deshalb noch relativ genau, weil ich am 2. April 1977 beschlossen hatte, das letzte Mal beim Friseur gewesen zu sein. Hintergrund dieser Entscheidung war, dass ich auf meinem Heimweg vom Graf Münster Gymnasium nach Hause in die Wilhelminenstraße im Hofgarten einen Kerl mit langen Haaren gesehen hatte und ... wow... so wollte ich auch aussehen. Bis 2006 sah mich auch kein Friseursalon. Dazwischen durften nur ganz ausgewählte Menschen an meine Haare.

Und wir Jugendlichen kamen da ja hin, weil wir andere treffen und uns fern ab der Erwachsenen eine eigene Lebenswelt ohne Vorschriften und ergebnisoffen entwickeln wollten. Das einte uns. Mit uns sind neben meinen Brüdern Hans-Jürgen, Reinhard und Georg auch Martin, Wuschel, Heike, Rolf, Kötschi, Josef, Markus, Martina, Bille, Franzi, Theo, Engerling, Karin, Johanna, Rudi, Bärbel, Ulrike und Bettina  etc. und die wichtigen über eine ganze Lebensspanne reichenden Freundschaften mit Angela, Ines, Kriemhild, Harry und Uwe gemeint.  Dass es einen Verein gab, der auch von Erwachsenen geführt werden musste, wurde mir erst später klar als ich bei Harry Imhof in der EIBA meinen Zivildienst ableistete. Dieser spielte aber für uns Jugendliche der zweiten Generation eine eher untergeordnete Rolle.

Kaum im Jugendzentrum übertrug man mir auch schnell die Position eines Jugendrates. Dieser traf sich – wie ich meine jeden Donnerstag – öffentlich. Der Beginn der Erfahrung mit ellenlangen Diskussionen. Dass Bayreuth damals doch sehr klein war, war nicht nur ablesbar in der Kneipenstruktur: Man ging abends vom Pritscherprackl, über den Holzwurm ins Monsieur und umgekehrt, eben bis man die Leute getroffen hat, die man treffen wollte. Das klappte seltsamerweise auch ohne Handy. Was Politik anbelangte, trafen sich auch dieselben Leute in den wie Pilze aus dem Boden schießenden Bürgerinitiativen. Hier trafen wir auch auf die “älteren” und “alten” Bayreuther Ewald Naujoks, Gerd Michaelis, Rudi Waschke, Isolde und Oskar Brückner, Klaus Rettig, Harry Imhof etc. und den eigentlich auch “alten” Studierenden. Aus diesen BIs entstand in Bayreuth ein weitgefächertes politisches Leben, das alle damals wichtigen Themen im Sortiment hatte: Berufsverbot, Kriegsdienstverweigerung, Deutscher Herbst, Atomkraft (Brokdorf 1981), Nachrüstung und Friedensbewegung. Ein konkretes Projekt war die Gründung des Dritte Welt Vereins 1981 und in Folge die Eröffnung des Dritte Welt Ladens im Februar 1982. Gründungsmitglied durfte ich damals nicht sein, da ich noch keine 18 war. Zwischenzeitlich hatte ich mich auch in der WIR Redaktion getummelt.

Ja, wir hatten auch mit Vorurteilen und massiven Kritiken - wie das Werner auch beschrieben hat - zu kämpfen. "Geht doch nach drüben", war noch eine der netteren Redewendungen. Von der Enge unseres damaligen Gegenübers will ich eigentlich weniger schreiben, das haben wir ja zur Genüge in Sprache, Wort und Bild gebracht. Was für mich aus heutiger Sicht viel bemerkenswerter war, ist, dass wir Jugendliche relativ schnell ein ziemlich geschlossenes Weltbild entwickelten: Alle politischen Probleme hingen miteinander schön und einfach monokausal zusammen. Verschwörungtheorien waren schick und bestimmten das Denken.  Umso erstaunlicher war es, dass ein Teil von uns genau das vehement (und mit Recht) der örtlichen Gruppe Luther und deren Sektiererei vorgeworfen hat.

Dieses geschlossene Weltbild, Kennzeichen von vielen politisch früh Sozialisierten, beginnt bei mir aber schon früh zu bröckeln. Dazu drei Beispiele:

  1. Wer über Pershing II redete, durfte nur unter Murren auch die SS 20 thematisieren. Das wurde einem schon relativ früh versucht einzureden nicht nur von jugendlichen Funktionären von SDAJ und DKP sondern auch von den Friedensbewegten um die DFGVK bis hin zu VertreterInnen der Kirchen. Das klappte aber in der Generation von mir nur noch bedingt, weil wir die Freiheiten, die andere schon für uns erkämpft hatten, uns wie selbstverständlich nahmen und unseren Mund diesbezüglich eben nicht hielten. Gleichwohl waren wir trotzdem blind gegenüber das Ausmaß an politischer Infiltration, die die SED über IMs, SDAJ und DKP ideell und finanziell einnahmen. Das haben wir erst nach 1990 aufarbeiten können... wenn wir wollten. 
  2. Die Pädophilie-Debatte der Grünen im Jahr 2013 haben wir schon früher vorweggenommen. Wir Jugendlichen wussten was bei den Stadtindianern in Nürberg abgelaufen ist. Die sich dem gegenüber stark genug fühlten, fuhren zu ihnen, um sich über sie lustig zu machen. Die, die das nicht sehr witzig fanden wie ich, mieden diese Kreise. Selbstkritisch müssen wir zugeben, dass es uns in der Auswahl von Bündnispartnern reichte, dass uns das "Anti", das "Dagegen sein" einte.    
  3. Iranische Revolution: Jeden Widerspruch und jedes Aufbegehren gegen Obrigkeit fanden wir per se gut und unterstützenswert. Wir waren glühende Verfechter jeder revolutionären Strömung und liefen allen hinterher... bis wir die Erfahrungen mit der iranischen Revolution gemacht haben, die mich zumindest eines Besseren belehrte. Danach war für mich nichts mehr wie zuvor. Der jugendliche Charme von Revolutionen und Che Guevara Kultbilder sind einem differenzierteren Weltbild gewichen, in dessen Fokus die Handlungsspielräume von Menschen stehen und nicht eine überschwängliche Parteinahme für die eine oder andere Seite.  

Da wir nahezu die Weltformel dechiffriert hatten, hatten uns natürlich auch andere Themen in Anspruch genommen, die weiterentwickelt für mich heute immer noch Bestand haben:

  1. Berufsverbot - Rechtsstaat - Wertebildung
    Unsere damalige Kritik war richtig, aber anders richtig als ich es damals gesehen hatte. Wir fanden es früher bodenlos skandalös, dass Menschen mit einer für uns wahren Wertewelt und Gesinnung die Ausübung ihres Berufs verwehrt wurde und im Gegensatz dazu rechte bis faschistoide Gesinnung hoffähig war. Dies ist - wenn man die NSU Geschichte ansieht – leider heute noch so, dass unser Rechtsstaat mindestens auf dem einen Auge blind ist. Heute geht es mir aber nicht mehr darum, dass wir denjenigen, die allein unserer Meinung sind, ein Recht zur Meinungsausübung und politischer Handlung einräumen, sondern allen, die sich mit dem Grundgesetz vereinen lassen. Das heißt eben, dass ich mit Freiheit auch immer die Freiheit des Andersdenkenden meine. Im Extrem: Auch wenn ich die AfD oder Pegida nicht so richtig großartig finde, haben sie ein Recht auf Meinungsäußerung. Das ist ein hohes Recht, das nicht selbstverständlich ist und für das auch gestritten werden muss.
  2. Asylpolitik
    Die Geschichte der AsylbewerberInnen hat sich seit den 70er Jahren grundsätzlich verändert. Hatten die Verfassungsväter- und mütter nach ' 45 eher den individuell politisch Verfolgten im Auge, haben sich die globalen und vorwiegend regionalen Migrationsströme in den letzten 40 Jahren dergestalt verändert, dass es heute keinen Sinn macht zwischen politisch, wirtschaftlich, kulturell und umweltbedingt motivierter Flucht zu unterscheiden. Dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, war richtig. Früher habe ich mich darin weniger engagiert, da dies ja meine Mutter engagiert, parteiisch und beherzt besetzt hat: In meinem Elternhaus lernte ich Menschen aller Kontinente und selbst Situationen kennen, in denen heillos zerstrittene Kriegsparteien bei uns in der Küche saßen. Damals war das ehrlich gesagt oft auch zu viel, denn unter den Flüchtlingen  gab es ja nicht nur per se Sympathische sondern eben auch Menschen, die nicht nur ganz anderer Meinung waren sondern einfach auch nur ätzend waren.

    Auch hier geht es um das Recht eines Verfolgten und nicht darum, dass wir das Anliegen von Flucht suchender Menschen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Gleichzeitig ist es für mich heute aber auch wichtig, klar zu stellen, was die Grundfesten unserer Demokratie sind, die – wer auch immer nach Deutschland kommt - nicht zur Disposition stehen. Da sind wir, gemeint das rotgrüne Spektrum,  heutzutage doch leider eher sehr zurückhaltend bis feige.
  3. Atomkraft
    Da lagen wir mit unserer Kritik zu 100-ig richtig. Es hat lange gedauert, bis es geschafft wurde, dies auch im politischen Establishment durchzukämpfen: Tschernobyl hat nicht gereicht, Fukushima musste auch noch kommen. Bitterer Witz  der Geschichte ist es, dass diejenigen, die schon frühzeitig gegen Atomenergie waren, sich nun verantwortlich für den strahlenden Müll zeigen, während die Unionsländer sich dieser Diskussion kategorisch verweigern. Richtig ist weiterhin und noch lange nicht durchgeboxt, dass Bezugspunkt unseres Lebens nicht rein quantitatives Wachstum sondern Lebensqualität und Glück sein sollte.  Problematisch in der ganzen Nachhaltigkeitsdebatte ist es, dass wir in Deutschland vorwiegend die eigene Insellösung suchen.  

Was ist geblieben?

Man kann sich ja nicht aussuchen, wo man das Licht der Welt erblickt. Mein Blick zurück sagt mir, ich habe das bei all den Ambivalenzen des Lebens ganz gut getroffen. Gleichwohl bin ich mir bewusst, es hätte auch ganz anders sein können. Es ist ein völlig unverschuldetes Glück und Privileg hier geboren zu sein statt in einer anderen Zeit oder in einem anderen Erdteil. Und dieses Privileg verpflichtet mich noch heute, Dinge politisch hier so zu gestalten, dass Menschen auch in anderen Ländern und Regionen optional so leben können wie wir hier. Dabei glaube ich nicht mehr an große Revolutionen, sondern an die Kraft der kleinen Schritte, der Menschlichkeit und dem Empowerment von Menschen.

Wenn man so will, bin ich politisch auch in meiner "Berufskarriere" geblieben. Nach dem Nato-Doppelbeschluss habe ich entschieden, Distanz zu meiner frühen politischen Sozialisation zu finden, diese zu reflektieren und dann schauen, was ich damit mache. Nachdem ich Politik, Soziologie und Psychologie in Berlin und Kiel studiert habe, habe ich mich der Entwicklungspolitik zugewandt. Hier arbeite ich seit knapp 2 Jahrzehnten in verschiedenen Programmen und Projekten im entwicklungspolitischen Landesnetzwerk Bündnis Eine Welt in Schleswig-Holstein und der Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutschland.

Politisch sozialisierte ich mich ziemlich früh. Aus heutiger Sicht gesehen eigentlich zu früh, denn vieles konnte man noch nicht wirklich einordnen und das öffnet Tor und Tür dafür, dass man sich instrumentalisieren lässt. Das ließ und lasse ich sowohl bei meinen jetzt großen Kindern als auch in meiner pädagogischen Tätigkeit. Hier geht es mir eher darum, Räume zu öffnen, die die Beteiligten ressourcenorientiert und ergebnisoffen gestalten können. Die Erfahrungen meiner frühen politischen Sozialisation haben mich hingegen gelehrt, Distanz zu halten gegen jeglicher Besserwisserei, gegen Heilslehren jeglicher Couleur und gegen die Selbstgerechtigkeit selbsternannter Gutmenschen. Denn meine Erfahrung mit mir sagt mir: Martin, du hast nicht die Weisheit gefressen und bist Alles, aber nicht Besser als andere. Der eigenen Ambivalenz bewusst, fällt mir den Umgang mit Anderen und vor allem Andersdenkenden doch entspannt gnädiger. Das heißt nicht, dass man in seinen politischen Positionen Klarheit verliert. Richtschnur meiner politischen Positionen ist dabei schlicht Menschlichkeit.    
... und heute

So long.
Martin


>>> Bündnis Eine Welt Schleswig-Holstein
>>> Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke





Stefan:
Sehr schöner, zum Reflektieren einladender Text. Die monokausalen Welterklärungsschemata einiger (ich war da auch nicht unschuldig) im JuZet hatten tatsächlich (vor allem aus heutiger Rückschau) etwas Verschwörungstheorieartiges.

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