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Im Leitbild von Christiania 1971 steht: „Das Ziel von Christiania ist das Erschaffen einer selbst-regierenden Gesellschaft, in der alle und jeder für sich für das Wohlergehen der gesamten Gemeinschaft verantwortlich ist. Unsere Gesellschaft soll ökonomisch selbsttragend sein, und als solche ist es unser Bestreben, unerschütterlich in unserer Überzeugung zu sein, dass psychologische und physische Armut verhindert werden kann.“
Offiziell 1973 zum sozialen Experiment mit einer zunächst 3-jährigen Laufzeit erklärt, erzielte und erzielt Christiania noch heute seine größte mediale Präsenz in der Öffentlichkeit durch den stets tolerierten Konsum von und den unbehinderten Handel mit weichen Drogen wie Haschisch und Marihuana in der Pusher-Street. Daneben fällt der Wert des „sozialen Experiments“ in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich ab. Selbstverwaltung, Basisdemokratie und Selbstregulierung werden daher je nach Sichtweise und Messlatte als total gescheitert, völlig irrelevant oder als bemerkenswert erfolgreich eingeschätzt.
S.12, WIR 1976/05 |
Leider habe ich in meiner Jugendzentrumszeit nur einen einzigen Artikel für die WIR geschrieben, und der ging über Christiania, das ich 1976 das erste Mal besucht hatte. Mein Artikel findet sich in der WIR 1976/05 auf S.14, darunter einige bemerkenswerte geistige Ergüsse zum absoluten Fremdschämen:
„Auch Verhütungsmittel scheinen wenig benutzt zu werden , da schon über die Hälfte der dort liebenden (man beachte den Freud’schen Rechtschreibfehler) Kinder in Christiania gezeugt wurden (und das sind ziemliche Massen: ständig begegnet man Kleinkindern, die im Monteuranzug die Welt im Krabbeln entdecken oder Mädchen, die ein Kind erwarten).“
„Zur Verbesserung der Krankheitserregerübertragung laufen noch massenweise die dreckigsten Tiere herum. Vom Hund, Katze, Huhn, über Schaf bis zum Ziegenbock war hier alles vereinigt.“ (noch so ein Freud, korrekt wäre natürlich „vereint“!)
Aber auch komplexe ;-) soziologisch-wissenschaftliche Analysen wie:
„Die 800 ständigen Bewohner von Christiania lassen sich in etwa 3 Gruppen einteilen:
a ) diejenigen, die ein geregeltes Kommunen - oder Familienleben führen, in oder außerhalb Christianias arbeiten (in Christiania sah ich Webereien, Fahrradreparaturwerkstätten u. ä.). Sie sind es, die Christiania auch mit dem Ziel der Errichtung einer Art Großfamilie besetzt hatten.
b ) diejenigen, die nicht arbeiten und sich dort billig durchschlagen, da sie ja hier keine Steuern oder sonstige Abgaben zahlen müssen. (welche „Steuern“ werden für Nichtarbeiten erhoben?, gemeint ist wohl eher „Miete“)
c ) diejenigen, die die Freiheiten von Christiania zur eigenen Bereicherung ausnutzen, indem sie Haschisch oder auch härtere Drogen verkaufen, obwohl allerdings der Verkauf von harten Drogen verboten ist.“
Nun, ich war halt noch sehr jung ……, aber zumindest die zuletzt beschriebene sogenannte „Tragik der Allmende“ hat Christiania stets begleitet und herausgefordert.
Seitdem habe ich Christiania immer mal wieder besucht, wenn es auf dem Weg lag. Über den Status eines Touristen bin ich aber ehrlich gesagt nie hinausgekommen, und einen Zugang zu der inneren Welt von Christiania habe ich nie erhalten, ich war nur Zuschauer. Hoffentlich gehörte ich nicht (oder wenigstens nur ein ganz klein bisschen …) zu der in meinem WIR-Artikel auch beschriebenen Gruppe von Touristen:
„Christiania ist inzwischen leider schon eine Art Touristenattraktion in Kopenhagen geworden. Omis und Opis durchstreifen kopfschüttelnd das Gelände, regen sich über die demolierten, chaotisch dreckigen öffentlichen Toiletten auf, die allerdings nur ihresgleichen so hinterlassen haben. Touristen knipsen die "dreckigen Hascher", um sie ihren Kindern dann zu zeigen und gleich eine Moralpredigt anzuschließen .“
… zum „Christiania-Aktionär“
Heute, 2015, lebt und gedeiht Christiania immer noch. Das soziale Experiment geht weiter. Drogen werden weiterhin offen angeboten und konsumiert. Touristen-Omis und –Opis durchstreifen weiterhin kopfschüttelnd das Geländer. Es gab Räumungsversuche, Aufstände, Mord und Totschlag, Schlägereien und eine ungeklärte Handgranatenattacke mit Schwerverletzten – der normale, traurige Wahnsinn des Lebens. Aber die durchaus zähen, hartnäckigen und umtriebigen Bewohner konnten schließlich offizielle Eigentümer des Geländes werden. Um die irgendwann fälligen Zahlungsverpflichtungen in Höhe von über 10 Millionen EUR erfüllen zu können, werden nun Christiania Folkeaktien angeboten.
So kommt es, dass ich seit Anfang 2014 offiziell (moralischer) Miteigentümer von Christiania bin – eben durch den Erwerb einer Folkeaktie: http://www.christianiafolkeaktie.dk/
Vermutlich sehe ich das Geld (500 DKK = ca. 67 EUR, Januar 2015) nie wieder, wieviele Quadratzentimeter Christania-Boden mir jetzt „gehören“ und welche Rechte mir als Inhaber einer Christiania Folkeaktie zustehen, ist mir gänzlich unbekannt. Ich kann auch nur hoffen, mit dem Erwerb nicht irgendwelche versteckten Pflichten eingegangen zu sein, aber ich liebe dieses Stück Papier, welches jetzt eingerahmt in meinem Zimmer hängt. Ich war echt glücklich, als ich meine Christiania-Aktie in den Händen hielt. Sie stellt für mich auf eine ganz besondere Art und Weise einen Bogen zwischen damals und heute her, der so bei meinem ersten Besuch vor nun bald 40 Jahren natürlich unmöglich vorhersehbar war.
Wer auch immer in seinem Leben jemals irgendeinen Bezug zu Christiania entwickelt hat, dem sei die Christiania Folkeaktie daher als echte Kaufempfehlung ans Herz gelegt:
finanzieller Wert = Null, emotionaler Wert = unendlich!
Übrigens auch eine schöne Geschenkidee ;-)
>>> Christiania-Artikel in der WIR, dort auf Seite 12
>>> Christiania Homepage
>>> Christiania Bildergallerie
>>> Christiania Folkeaktie
>>> Christiania in Wikipedia
>>> Die “Tragik der Allmende” in Wikipedia
>>> Süddeutsche Zeitung, 31.10.2012, „Antikapitalisten auf Geldsuche - Volksaktie der Hippies“
>>> taz, 1.5.2011, "Bewohner kaufen ihren Freistaat"
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