Freitag, 21. November 2014

Fundstellen: Kleinanzeigen in der WIR

Kleinanzeigen sind das Facebook, Twitter und ebay von damals. In der WIR waren sie die auf 25 kostenlose Wörter verdichtete Wiedergabe und Interpretation des gnadenlosen Alltags. Hier ein paar herausragende Fundstellen:



Zum Stand der Technologie:
Wahnsinn: 2 extra Antennen für 2 schwarz-weiße Programme,  eine riesige Bildschirmdiagonale, Fernbedienung ein Fremdwort (mit 2 Kanälen kann man auch nicht zappen), die Reduktion auf das Essentielle.



Weihnachtsgeschenke:
Das habe ich leider 40 Jahre zu spät gesehen: Den hätte ich meiner Mutti damals vielleicht geschenkt. Batik war jedenfalls ganz groß und in! Nur Männer haben damals offensichtlich keine Schals getragen.



Schon immer da - Kontaktanzeigen:
Ok, mit „Waldspaziergänge“ hat Anarchibald eine schöne Umschreibung  gefunden. Hoffentlich hat er damals seine Chance bekommen und sein Glück gefunden. Heute würde er vermutlich „parshippen“, aber würde er bei Parship so liebevoll süß wie hier schreibmaschinengetippt in der WIR wirken?




Noch eine glasklare Kontaktanzeige
Bei der nächsten Kontaktanzeige geht es schon etwas deutlicher zu: „fir olles was sa muss“ ist eine klare Ansage, denn wie wir alle wissen: „was muss, das muss“ ;-) Seriöses Aussehen als zusätzlich Bedingung ist sicherlich angemessen, denn „wenn schon, denn schon“. Welche Rolle Telefon, Kühlschrank und WC hier spielen ist allerdings nicht ganz klar – erst per Telefon verabreden, dann das Mannsbild im Kühlschrank schockgefrieren und durchs WC  spülen? Und ist mit dem „BILD“ ein Foto oder genau die BILD gemeint, an die dann später die Gruselstory verkauft werden soll? Fragen über Fragen, auf die 40 Jahre später eigentlich nur die damalige Inserentin eine Antwort geben könnte.




Echte Lebenshilfe, damals wie heute:
Das ist jetzt zwar keine Kleinanzeige, aber stand ganz in der Nähe der Kleinanzeigen, darum bin ich drauf gestoßen. Heute ein nicht mehr existierendes Bild: Tramper an Raststätten und Landstraßen, langhaarig, bunt, Schlabberklamotten. Damals weitverbreitet, heute ausgestorben, klar dass die WIR hier Lebenshilfe bieten musste. Die aufgelisteten Empfehlungen helfen heute zwar nicht mehr beim Trampen, können aber bei jedem Bewerbungsgespräch von Nutzen sein, denn das sind Empfehlungen für die Ewigkeit! Und sie zeigen auch, wie wohlerzogen, gesittet, vorausschauend und dankbar wir auch sein konnten - von wegen lanhaarige Affen...




Noch eine Kontaktanzeige, diesmal aber raffiniert kaschiert
Bei der nächsten Anzeige frage ich mich, ob das nicht einfach ein Versuch ist, aus einem schnellen Abenteuer doch noch eine Beziehung zu flicken? Oder jemanden zu besänftigen, der/die so schnell das Weite gesucht hat, dass die Socken liegen bleiben mussten? Wenn die Socken noch riechen, dann kann es ja gar nicht so lange her sein, dafür müsste ein normales Gedächtnis reichen. Oder wird der Inserent/die Interessentin regelmäßig von Menschen, die sich bei ihm/ihr die Socken ausziehen, überflutet? Beneidenswert. Wie auch immer: der Mensch und seine Beziehungen, die Quadratur des Kreises, hier auf 4 Zeilen kongenial verdichtet und für die Ewigkeit konserviert.



Alternative Versandbuchhandlung mit einem interessanten "Product-Mix":
Um alles weitere über die Themen von damals zu erfahren, genügt ein Blick in das Angebot der alternativen Versandbuchhandlung. Interessant ist vor allem „AKW, Gartenbau-Zeitschriften und Anti-Atom-Aufkleber“. Was bitte machen die Gartenbau-Zeitschriften zwischen AKWs und Anti-Atom-Aufklebern? Gut und Böse leben hier offenbar in trauter Nachbarschaft. Vielleicht ist das die eigentliche ultimative Erkenntnis, die hier versteckt transportiert werden soll. Und vielleicht ist das gar keine alternative Versandbuchhandlung, sondern Manuel Neuer.



Männer haben auch Gefühle 
Was Männer 1978 beschäftigt, will der Männerkalender thematisieren, aber sich vor allem über eine Kleinanzeige in der WIR dem Käufer, dem Mann, anbieten. Ein Thema ist diese böse, sexualisierte Umwelt, die uns Männern ständig so zu schaffen macht. Es dauerte dann noch genau 20 Jahre, bis die Ärzte 1998 mit dem Lied „Männer sind Schweine“ endlich die finale Antwort gefunden hatten. Insofern ist Sterilisation schon eine gute und weit vorausblickende Empfehlung gewesen. Davor will aber noch die neue Innerlichkeit gefunden werden - "Leck mich am Arsch".



Finanzwirtschaft und Renditeoptimierung am Beispiel der WIR:
Wie weit die WIR ihrer Zeit voraus war, wird an diesen Kleinanzeigen deutlich.  Hat die WIR etwa ungewollt zum späteren Sieg der Marktwirtschaft über den Sozialismus beigetragen? Aber zurück zur Ausgangssituation: Angebot und Nachfrage werden hier in zwei Anzeigen definiert, "biete 3 DM" - "verlange 30 Pf". Derjenige Leser, der nun für 30 Pf+50Pf Porto = 80 Pf die WIR 1/78 von dem einen Inserenten kauft, kann diese also für 3 DM (+50Pf Porto) = 3,50 an den anderen Inserenten verkaufen. Nehmen wir an, die Transaktion dauert 2 Wochen (Postversand!), ergibt sich ein möglicher Gewinn von 2,70 DM, der Einsatz von 80 Pf steigt also um 375 % zu einem respektablen Gewinn Hoch gerechnet auf ein Jahr  wird der Kapitaleinsatz von 80 Pf in nur 2 Wochen also mit 8762% verzinst! Davon können Apple-Aktionäre nur träumen. Ein typischer Fall von falscher Markteinschätzung durch den Anbieter, der angesichts vermutlich großer Restbestände in Panik verfallen ist, sowie gleichzeitig mangelnder Marktkenntnis beim Nachfrager. In dieses Ungleichgewicht springt der Mittler hinein, bedient beide Seiten genau mit dem Preis, den sie erwarten, erzeugt das Gleichgewicht und streicht die Differenz für sich ein. Heute erledigen das Hedgefonds und hier, mit diesen zwei Anzeigen, wurde offenbar die Basis für unsere aktuelle Finanzwirtschaft gelegt, in der sich Geld völlig vom Gut entkoppelt hat.



Alles Betrug?
Allerdings werden meine Ausführungen mit der kurz darauf folgenden Kleinanzeige möglicherweise konterkariert. WIRler haben sich diese Kleinanzeigen aus den „Fingern gesogen“? Möglicherweise gar die Anzeigen erfunden? Wurde hier in großem Stil der Markt manipuliert? Sollten gezielte Gerüchte den Preis pro WIR vielleicht durch die Decke schießen lassen? War der ganze Herstellungsprozess der WIR nichts anders als Grundlage einer raffinierten weltweit angeheizten Spekulationsblase? Wurden wir Leser hereingelegt? Oder wurde hier bereits die Grundlage für all diese hochinteressanten Mails mit seriösen Geschäftsangeboten gelegt, die sich heute in Unmengen in jedem Spamordner wiederfinden? Fragen über Fragen - diesen muss sich die damalige WIR-Redaktion während der Revival-Party mit Sicherheit stellen. Diese Fragen schreien nach Antworten!



Datenschutz
Immer ein Thema: Datenschutz, auch schon 1980, Damals waren Rasterfahndung und Volkszählung ein Muss in jeder Diskussion. Und damit einhergehend wurde immer angesprochen: der Abgleich von Personenprofilen etc. mit gigantischen 8-bit-Computern, die damals Häuser füllten, und eine Speicherkapazität hatten, die heute von jedem Handy gleich mehrfach übertroffen wird. Ziel war es, mit diesen Persönlichkeitprofilen mühsam das zu ermitteln, was heute jeder in seinem Facebook-Profil preisgibt. Schöne neue Welt!



Hier war der Wunsch Vater des Gedankens
Während dieser Musiker seine Anzeige zu Papier brachte, dachte er wohl weniger an den zukünftigen Gitaristen, sondern eher an eine vermutlich von ihm sehr verehrte Gitta. Zum Glück war der Inserent kein Chemiker, sonst wäre zu dem Gittarist wohl noch der Basist hinzugekommen.



Es duftet nach Weihnachten
Und  zu guter Letzt noch ein liebevoller Weihnachtsgruß, der hier natürlich als abschreckendes Beispiel und nicht zur Nachahmung zu verstehen ist. Wie dieser Aufruf zum Rechtsbruch und die Herabwürdigung von Tieren Eingang in die WIR finden konnte, wäre eigentlich noch eine Untersuchung wert, aber vermutlich ist diese Straftat bereits verjährt. P.Woodstock, da hast du aber nochmal Glück gehabt!

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